Am 22. April 2010 um 09:02 Uhr erreichen wir, (acht Schüler der 10c/m der
Reliklasse von Fr. Sirch) den idyllischen Gutshof Facenda da Esperanca
in Bickenried bei Irsee, den wir als Exkursionsziel zum Thema Sucht
ausgewählt haben. Als wir den Hof überqueren schlägt uns aus einem
offen stehenden Auto laute Rockmusik entgegen, aus dem Stall dringen
tierische Geräusche und das Klappern einer Schubkarre; wären wir ohne
Vorwissen hier vorbeigekommen, hätten wie das Anwesen wohl kaum für
eine Einrichtung für (ehemalige) Suchtkranke gehalten. Und auch als kurz
darauf ein sympathisch aussehender junger Mann in Stallkleidung aus
dem Gebäude tritt, der sich als Hofleiter Tim vorstellt, ahnt noch keiner,
was er uns gleich erzählen wird.
Nachdem er uns von seiner 16-jährigen Drogenkarriere (Heroin) mit allen
Höhen und Tiefen, einer gescheiterten Ehe, seinem Kind und einem
Banküberfall mit anschließender Flucht durch ganz Europa berichtet hat,
können wir kaum glauben, dass der Mensch der vor uns steht und uns die
Geschichte erzählt, selbst darin die Hauptrolle spielt.
Noch total von den Socken und total beeindruckt von seiner Lebensgeschichte folgen wir
seinen Kollegen und Mitbewohnern Frank und Vitali zu eine Führung
über das Gelände. Neben den Tieren, von Hunden, Katzen, Schafen
über Hasen, Schweine und Enten bis hin zu den zwei Pfauen,
bekommen wir auch das Innere des Hofes zu sehen. Die 4-Bett-Zimmer
der 16 Bewohner bieten jedem ein Bett, einen kleinen Schrank und ein
Regal. Viel Platz ist hier nicht, aber Frank meint lachend, dass das wohl
genauso ablaufe wie bei uns zuhause. Natürlich kriege man sich da
leicht mal in die Haare, aber man müsse sich eben arrangieren, man
könne nun mal nichts ändern. Als Nächstes führt er uns in das kleine
Hofcafé und den Hofladen, und berichtet stolz wie sie sich diese
öffentlichen Orte aufgebaut haben. Anfangs seien die Irseer dem Hof
und seinen Bewohnern gegenüber wohl noch kritisch gewesen, aber
inzwischen haben sich alle Zweifel gelegt. Eine Gruppe von Joggern
macht hier regelmäßig Mittagspause und einige Mütter bringen ab
und zu ihre Kinder vorbei. Als er fragt ob wir uns vorstellen können
dass er backe sind wir uns einig: der etwas untersetzte Mann mit den
riesigen Muskeln und dem verschmitzten Grinsen auf dem Gesicht
sieht nicht gerade aus, als wäre er der beste Konditor; ist er aber -
Seit er es auf der Facenda gelernt hat. („Ich hab noch NIE nen
Tortenboden gekauft?“). Im ersten Stock über dem Café kriegen wir
noch die Zimmer zu sehen, die Schulklassen bewohnen, wenn sie
hierher ins Schullandheim kommen. Hier ist wirklich ganz schön was
los; langweilig wird es auf dem Hof sicher nie, so viel steht fest.
Anschließend gehen wir in die kleine Hauskapelle, wo Frank uns das
Grundprinzip der Facendas genauer erklärt: Das Leben auf dem Hof
basiert auf drei Säulen: Arbeit, Gemeinschaft und Spiritualität. Diese
Grundsätze bestimmen das Leben auf dem Hof und strukturieren den
Alltag. Ausschlafen ist hier sicher nicht angesagt! In aller Frühe wird
nach dem Frühstück und dem Lesen des Tagesevangeliums in der
Kapelle bis mittags gearbeitet. Nach dem Essen gibt es bis zum Abend
nur noch eine kleine Arbeitsunterbrechung durch den Kaffee um 15:00
Uhr. Die Arbeit auf dem Hof geht nie aus. Ob im Haushalt oder im Stall,
in der Küche oder auf den Feldern- es gibt immer was zu tun. Eine
wichtige Arbeit ist auch die Arbeit im Lager: die Facenderos machen
verschieden Arbeiten für religiöse Versandstellen. Zum Beispiel das
Verpacken von sogenannten „Prayerboxes“ gehört dazu. Außerdem
müssen Sachen wie Kommunion Geschenksätze zusammengestellt
werden, und vieles mehr. Diese Arbeit ist eine kleine Einnahmequelle
der Organisation. Da der Hof so ziemlich alles lebensnotwendige
abwirft, können die Facendas auf Selbstversorgerbasis bestehen.
Trotzdem fallen immer wieder Kosten an, die z.B. durch die Arbeit im
Lager gedeckt werden können. Sonstige einnahmen bringen die
Tierzucht (Hasen,...) , das Café und Spenden. Das Gut selber ist eine
Schenkung, auch das ist eine Regel: es werden keine Höfe gekauft.
Die Arbeit ist als eine der drei Grundsäulen also sehr dominierend, und
wird in Dienste eingeteilt, wobei versucht wird zu fordern, und den
Leuten neue Aufgaben zu geben.(„So bin ich auch zum Backen
gekommen:)“)
Die Spiritualität ist der zweite Grundsatz auf dem Hof: vor Allem hier
in der Kapelle wird die Wichtigkeit davon besonders deutlich. Das
tägliche Lesen des Tagesevangeliums soll einen guten Start in den
Tag ermöglichen, außerdem wird daraus auch ein „Spruch des Tages“
ermittelt.( Heute: Beweg deinen Arsch mit Freude!) „Wir lesen viel in
der Bibel, und erschließen sie. Wenn man mir früher mit Kirche ankam,
wie soll ich das sagen; ich dachte n Tabernakel wäre n Insekt oder so!
Und als ich s erste mal ne Nonne gesehn hab, dacht ich mir nur: wie ist
denn die drauf? Hat n Kreuz umn Hals! Na ja, ich kannte das halt nur
von den Türken! (lacht)“ . Die Bewohner hatten also nicht unbedingt
vorher schon Kontakt mit Glaube oder Kirche, helfen sich aber mit ihr,
sich selbst wieder zu finden.
Die Gemeinschaft, die die dritte Säule darstellt, ergebt sich fast aus
den anderen beiden. Man versuche einfach, abgesehen davon dass
man ja eh fast alles zusammen macht, sich zu helfen und füreinander
da zu sein. Einmal pro Woche trifft man sich auch um sich über die
Erlebnisse der Woche auszutauschen, zwar ist das auch da um
Probleme zu besprechen, hauptsächlich aber um zu sehen was man
erreicht hat, was schön war, wie man vielleicht jemandem geholfen
hat und voneinander profitiert...
Von dieser eindrücklichen Schilderung Franks über den Hofalltag,
sind wir ganz schön fasziniert. Nachdem wir noch eine kleine Weile
die schöne Atmosphäre in der Kapelle genossen haben, wird uns
noch das Lager gezeigt. Als wir reinkommen sind wir erst mal ziemlich
schockiert: an einem Tisch in der Mitte des Raumes zwischen
lauter Regalen sitzt jemand, über den Tisch gebeugt und hält- wir
können es kaum glauben- eine Spritze in der Hand! Er macht auch
keine Anstalten sie irgendwie verschwinden zu lassen als wir
reinkommen; Frank überreißt die Lage schnell und erklärt unter
schallendem Gelächter, dass hier auch Weihwasser in kleine
Kanülen für die Prayerboxes abgefüllt wird. Unsere anfängliche
Unsicherheit fällt ab, und auch wir können jetzt lachen.
Im Laufe des Tages haben wir schnell bemerkt, dass wir hier gerne
willkommen sind. Die herzliche Stimmung und der nette Umgang
zeugt von der Offenheit und der Entspanntheit, die, trotz allen düsteren
Vorgeschichten und teils traurigen Hintergründen, auf dem Hof
herrschen. Auch die großzügige Gastfreundlichkeit wird, wie wir finden,
wenig später bewiesen, als wir gemeinsam im gemütlichen
Wohnzimmer bei Kaffee und Keksen sitzen. Zwar hat man uns schon
die ganze Zeit dazu angehalten Fragen zu stellen und nachzuhaken,
aber irgendwie sind wir bisher gar nicht dazu gekommen, anfangs
vielleicht aus Zurückhaltung, dann wahrscheinlich aus Faszination.
Außerdem waren alle Schilderungen und Eindrücke mehr oder weniger
selbsterklärend und ließen kaum Unklarheiten zurück.
Aber nach und nach fallen uns doch noch ein paar Dinge ein und so
löchern wir unsere Führer mit unseren Fragen. Die Facenderos bleiben
normalerweise ein Jahr auf dem Hof; während dem Aufenthalt hat
keiner Kontakt zu Familie oder Freunden. Es gibt weder Handys noch
Internet auf dem Gut. Nach einem Jahr wird der weitere Weg
besprochen. Meist steht zuerst ein bis zu zweimonatiger „Urlaub“ an,
der entweder bei Verwandten oder Freunden, oder aber auch zum
Beispiel auf Pfarrhöfen, die von der Facenda vermittelt werden
stattfindet. Danach kann man selbst entscheiden wie man weiterleben
möchte, und in wieweit man sich im Stande fühlt wieder auf eigenen
Beinen zu stehen.
Eigentlich kann man die Funktionsweise der Einrichtung in dem Sinne
nicht beschreiben, man muss es wohl selbst mal gesehen und erlebt
haben. „ Wer hier landet, der ist einfach gaaanz unten, der hat so gut
wie nichts mehr zu verlieren. Hier fangen alle bei Null an. Es ist einfach
die Liebe die man einander entgegenbringt, die das alles so besonders
macht. Früher dachte ich immer Liebe hat nur was mit Frauen und
Mädchen zu tun, und bin rot geworden und hab blöd gekichert. Aber
dass es auch Liebe sein kann, wenn man einem Bruder, und sei es
nur bei einer Kleinigkeit, hilft, und sieht wie er sich freut und das tut
einem einfach gut, dann ist das auch Liebe, und ich glaube das zu
kapieren ist schon mal echt genial! Fragt mich nicht wie das hier
funktioniert, lauter Knastis und Junkies und solche Leute alle auf nem
Haufen, ich weiß es einfach nicht, aber die Hauptsache ist doch,
dass es funktioniert.“, erklärt Tim lächelnd. Dieser Satz fasst unserer
Meinung nach am Besten zusammen, was wir heute alles gesehen,
erlebt und gelernt haben. Als wir ausgetrunken und uns verabschiedet
haben, gehen wir noch zu einem kleinen See hinunter, um uns
auszutauschen und den Vormittag nach zu besprechen, aber
letztendlich reden wir nicht viel. Die Stille ist aber nicht unangenehm;
wir hängen einfach unseren Gedanken nach und sind im wahrsten
Sinne des Wortes sprachlos.