Was Kinder brauchen ...
1. Genug Schlaf
In unserer gehetzten Gesellschaft ist Schlaf ein knappes Gut. 11 bis 13 Stunden Schlaf empfiehlt die amerikanische National Sleep
Foundation für Drei- bis Sechsjährige; 10 bis 11 Stunden für Sieben- bis Dreizehnjährige. Doch wie eine Untersuchung des
Instituts für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin in Mainz ergab, schläft jedes vierte Grundschulkind in Deutschland zu wenig.
Mangelnde Aufmerksamkeit, Antriebsarmut, Rastlosigkeit oder Essstörungen sind laut der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung
und Schlafmedizin mögliche Folgen.
Daher: ein festes Zubettgehritual schaffen sowie ein kühles, dunkles Schlafzimmer.
2. Gesundes Essen
Je aktueller die Zahlen, desto höher der Anteil übergewichtiger Kinder: 15 Prozent der Drei- bis Siebzehnjährigen sollen es laut Kinder- und Jugendsurvey
des Robert-Koch-Instituts sein. Bei den Elf- bis Siebzehnjährigen weist mehr als jeder Fünfte eine Essstörung auf. Das kann Fettleibigkeit, aber auch
Magersucht oder Bulimie sein.
Also: eine gemeinsame Mahlzeit am Tag, ohne Sonderregeln für einzelne Familienmitglieder;
zusammen kochen; Snacks vor dem Essen sind tabu – ebenso Süßes oder Fast Food als Belohnung.
3. Unbeaufsichtigt draußen spielen
Die "Bildschirmzeit" eines Kindes hat sich in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt, heute kommen zu 90 Minuten TV
noch einmal 90 Minuten Videospiel, Soziale Netzwerke und Internetsurfen. Das hat die KIM-Studie des Medienpädagogischen
Forschungsverbundes Südwest im Jahr 2010 ergeben. So wird das Kinderzimmer leicht zum goldenen Gefängnis. Aber Klettern,
Balancieren oder Rennen – motorische Fähigkeiten also – erlernen sich nur draußen und frei von ständiger Aufsicht. Ebenso gilt
es, Selbstvertrauen und einen souveränen Umgang mit der Umwelt im Freien zu erkämpfen.
Darum: Gemeinsam die nahe Umgebung erkunden; zu Fuß zum Kindergarten oder zur Schule gehen; dabei sichere Verhaltensweisen
einüben; auf klaren Absprachen bestehen: "Wo bist du wann unterwegs? Und mit wem?"
4. Lesen und Vorlesen
Vorlesen ist enorm wichtig für die kindliche Entwicklung, eigenständiges Weiterlesen ebenfalls, wie zum Beispiel Studien
der Stiftung Lesen oder des Bundesministeriums für Bildung und Forschung zeigen. Wirklich alle Entwicklungspsychologen,
Hirnforscher, Medienpädagogen und Soziologen sind sich einig: Vielleser haben eine enorm größere Chance auf höhere Bildung.
Sie verstehen – dank größerer Medienkompetenz, Empathiefähigkeit und Fantasie – die Welt besser.
Also: viel vorlesen, auch über die erste Klasse hinaus! Eltern fällt das leichter mit witzigen und anspruchsvollen,
sprich sorgfältig ausgewählten Bilder-, Erstlese- und Kinderbüchern; auch im hektischen Tagesablauf Lesezeiten
einbauen; sich selbst beim Lesen beobachten lassen; Kinder mit Büchereien vertraut machen.
... und was nicht:
5. Einen eigenen Fernsehapparat
Bildungsforscher sehen einen klaren Zusammenhang zwischen hohem TV-Konsum und schlechten Leseleistungen.
Das haben nicht zuletzt die PISA-Studien gezeigt. Wer ein eigenes Gerät im Zimmer hat, schaut eine Stunde länger
als andere! Jeder fünfte Sechs- bis Dreizehnjährige ist ein Vielseher mit weit überdurchschnittlicher Fernsehzeit.
Die Sender bringen den Konsumdruck in die Köpfe – per Werbespots und im kommerziellen Kinderprogramm,
das sich bemüht, der Werbung ähnlich zu sein.
Gegenstrategien: Am besten die Glotze ganz abschaffen, es lässt sich keine seriöse Studie finden,
die TV-losen Kindern Entwicklungsdefizite bescheinigt; sonst möglichst zusammen gucken,
um danach über die Sendungen zu sprechen; dem Programmdiktat entgehen, indem man DVDs schaut.
6. Noch mehr Spielsachen
Heute ist mehr Spielzeug verfügbar denn je, jährlich kommen Zehntausende Neuheiten dazu. Der Trend geht eindeutig
zu Lizenzprodukten (Serienhelden auf Sammelkarten, Spielfiguren, Bettwäsche oder Videospielen). Mit einfachen
Holzschwertern konkurrieren lärmende Laserschwerter. Doch gutes Spielzeug ist zu 90 Prozent Kind, zu zehn Prozent Zeug.
Darum: Kinder nicht durch übervolle Regale zu Wegwerfkonsumenten erziehen; jedes Spielzeug meiden, das nur ein
Lied singt, einen Satz sagt oder ein einziges Blinksignal von sich gibt.
7. Gequengel
Die Verkaufsstrategen lieben Kinder im Quengelmodus, die Eltern könnten ja nachgeben. Quengeln ist eben zermürbend
für Eltern, es ist aber auch entwürdigend für Kinder, zeigt es doch ihre Abhängigkeit.
Gegenmaßnahmen: Den Kindern selbst nicht dauernd etwas vorjammern (etwa über Chef oder Kollegen);
eine höfliche Form für ein ernst gemeintes Nein finden; zu Unabhängigkeit und Selbstachtung erziehen.
8. Elterliche Schuldgefühle
Gründe dafür gäbe es wahrscheinlich genug: Viele Eltern kämpfen mit dem Gefühl, nicht genug Zeit für ihre Kinder zu haben.
Viele zweifeln auch an der Qualität ihrer Betreuung. Und von den rund 190?000 Scheidungen im Jahr sind etwa 150?000 Kinder
betroffen, die durchaus darunter leiden – Tendenz steigend. Bei alldem nützen Schuldgefühle nichts, fördern sie doch höchstens
schädliche Ablassgeschenke und inkonsequente Erziehung.
Daher: Schuldgefühle bekämpfen; Qualität der Betreuung überprüfen; wann immer möglich, Zeit für das Kind aufwenden – und nicht Geld.
Susanne Gaschke in der "Zeit" vom 08.09. 2011