Redakteur: A. Wayandt
Quelle: SIR, E. Henle
Publikationsdatum: 11.10.2010
Letzte Änderung: 21.10.2011

Facenda da Esperanca

Gut Bickenried

Am 22. April 2010 um 09:02 Uhr erreichen wir, (acht Schüler der 10c/m der Reliklasse von Fr. Sirch) den idyllischen Gutshof Facenda da Esperanca in Bickenried bei Irsee, den wir als Exkursionsziel zum Thema Sucht ausgewählt haben. Als wir den Hof überqueren schlägt uns aus einem offen stehenden Auto laute Rockmusik entgegen, aus dem Stall dringen tierische Geräusche und das Klappern einer Schubkarre; wären wir ohne Vorwissen hier vorbeigekommen, hätten wie das Anwesen wohl kaum für eine Einrichtung für (ehemalige) Suchtkranke gehalten. Und auch als kurz darauf ein sympathisch aussehender junger Mann in Stallkleidung aus dem Gebäude tritt, der sich als Hofleiter Tim vorstellt, ahnt noch keiner, was er uns gleich erzählen wird.
Nachdem er uns von seiner 16-jährigen Drogenkarriere (Heroin) mit allen Höhen und Tiefen, einer gescheiterten Ehe, seinem Kind und einem Banküberfall mit anschließender Flucht durch ganz Europa berichtet hat, können wir kaum glauben, dass der Mensch der vor uns steht und uns die Geschichte erzählt, selbst darin die Hauptrolle spielt.
Noch total von den Socken und total beeindruckt von seiner Lebensgeschichte folgen wir seinen Kollegen und Mitbewohnern Frank und Vitali zu eine Führung über das Gelände. Neben den Tieren, von Hunden, Katzen, Schafen über Hasen, Schweine und Enten bis hin zu den zwei Pfauen, bekommen wir auch das Innere des Hofes zu sehen. Die 4-Bett-Zimmer der 16 Bewohner bieten jedem ein Bett, einen kleinen Schrank und ein Regal. Viel Platz ist hier nicht, aber Frank meint lachend, dass das wohl genauso ablaufe wie bei uns zuhause. Natürlich kriege man sich da leicht mal in die Haare, aber man müsse sich eben arrangieren, man könne nun mal nichts ändern. Als Nächstes führt er uns in das kleine Hofcafé und den Hofladen, und berichtet stolz wie sie sich diese öffentlichen Orte aufgebaut haben. Anfangs seien die Irseer dem Hof und seinen Bewohnern gegenüber wohl noch kritisch gewesen, aber inzwischen haben sich alle Zweifel gelegt. Eine Gruppe von Joggern macht hier regelmäßig Mittagspause und einige Mütter bringen ab und zu ihre Kinder vorbei. Als er fragt ob wir uns vorstellen können dass er backe sind wir uns einig: der etwas untersetzte Mann mit den riesigen Muskeln und dem verschmitzten Grinsen auf dem Gesicht sieht nicht gerade aus, als wäre er der beste Konditor; ist er aber - Seit er es auf der Facenda gelernt hat. („Ich hab noch NIE nen Tortenboden gekauft?“). Im ersten Stock über dem Café kriegen wir noch die Zimmer zu sehen, die Schulklassen bewohnen, wenn sie hierher ins Schullandheim kommen. Hier ist wirklich ganz schön was los; langweilig wird es auf dem Hof sicher nie, so viel steht fest. Anschließend gehen wir in die kleine Hauskapelle, wo Frank uns das Grundprinzip der Facendas genauer erklärt: Das Leben auf dem Hof basiert auf drei Säulen: Arbeit, Gemeinschaft und Spiritualität. Diese Grundsätze bestimmen das Leben auf dem Hof und strukturieren den Alltag. Ausschlafen ist hier sicher nicht angesagt! In aller Frühe wird nach dem Frühstück und dem Lesen des Tagesevangeliums in der Kapelle bis mittags gearbeitet. Nach dem Essen gibt es bis zum Abend nur noch eine kleine Arbeitsunterbrechung durch den Kaffee um 15:00 Uhr. Die Arbeit auf dem Hof geht nie aus. Ob im Haushalt oder im Stall, in der Küche oder auf den Feldern- es gibt immer was zu tun. Eine wichtige Arbeit ist auch die Arbeit im Lager: die Facenderos machen verschieden Arbeiten für religiöse Versandstellen. Zum Beispiel das Verpacken von sogenannten „Prayerboxes“ gehört dazu. Außerdem müssen Sachen wie Kommunion Geschenksätze zusammengestellt werden, und vieles mehr. Diese Arbeit ist eine kleine Einnahmequelle der Organisation. Da der Hof so ziemlich alles lebensnotwendige abwirft, können die Facendas auf Selbstversorgerbasis bestehen. Trotzdem fallen immer wieder Kosten an, die z.B. durch die Arbeit im Lager gedeckt werden können. Sonstige einnahmen bringen die Tierzucht (Hasen,...) , das Café und Spenden. Das Gut selber ist eine Schenkung, auch das ist eine Regel: es werden keine Höfe gekauft. Die Arbeit ist als eine der drei Grundsäulen also sehr dominierend, und wird in Dienste eingeteilt, wobei versucht wird zu fordern, und den Leuten neue Aufgaben zu geben.(„So bin ich auch zum Backen gekommen:)“)
Die Spiritualität ist der zweite Grundsatz auf dem Hof: vor Allem hier in der Kapelle wird die Wichtigkeit davon besonders deutlich. Das tägliche Lesen des Tagesevangeliums soll einen guten Start in den Tag ermöglichen, außerdem wird daraus auch ein „Spruch des Tages“ ermittelt.( Heute: Beweg deinen Arsch mit Freude!) „Wir lesen viel in der Bibel, und erschließen sie. Wenn man mir früher mit Kirche ankam, wie soll ich das sagen; ich dachte n Tabernakel wäre n Insekt oder so! Und als ich s erste mal ne Nonne gesehn hab, dacht ich mir nur: wie ist denn die drauf? Hat n Kreuz umn Hals! Na ja, ich kannte das halt nur von den Türken! (lacht)“ . Die Bewohner hatten also nicht unbedingt vorher schon Kontakt mit Glaube oder Kirche, helfen sich aber mit ihr, sich selbst wieder zu finden.
Die Gemeinschaft, die die dritte Säule darstellt, ergebt sich fast aus den anderen beiden. Man versuche einfach, abgesehen davon dass man ja eh fast alles zusammen macht, sich zu helfen und füreinander da zu sein. Einmal pro Woche trifft man sich auch um sich über die Erlebnisse der Woche auszutauschen, zwar ist das auch da um Probleme zu besprechen, hauptsächlich aber um zu sehen was man erreicht hat, was schön war, wie man vielleicht jemandem geholfen hat und voneinander profitiert...
Von dieser eindrücklichen Schilderung Franks über den Hofalltag, sind wir ganz schön fasziniert. Nachdem wir noch eine kleine Weile die schöne Atmosphäre in der Kapelle genossen haben, wird uns noch das Lager gezeigt. Als wir reinkommen sind wir erst mal ziemlich schockiert: an einem Tisch in der Mitte des Raumes zwischen lauter Regalen sitzt jemand, über den Tisch gebeugt und hält- wir können es kaum glauben- eine Spritze in der Hand! Er macht auch keine Anstalten sie irgendwie verschwinden zu lassen als wir reinkommen; Frank überreißt die Lage schnell und erklärt unter schallendem Gelächter, dass hier auch Weihwasser in kleine Kanülen für die Prayerboxes abgefüllt wird. Unsere anfängliche Unsicherheit fällt ab, und auch wir können jetzt lachen. Im Laufe des Tages haben wir schnell bemerkt, dass wir hier gerne willkommen sind. Die herzliche Stimmung und der nette Umgang zeugt von der Offenheit und der Entspanntheit, die, trotz allen düsteren Vorgeschichten und teils traurigen Hintergründen, auf dem Hof herrschen. Auch die großzügige Gastfreundlichkeit wird, wie wir finden, wenig später bewiesen, als wir gemeinsam im gemütlichen Wohnzimmer bei Kaffee und Keksen sitzen. Zwar hat man uns schon die ganze Zeit dazu angehalten Fragen zu stellen und nachzuhaken, aber irgendwie sind wir bisher gar nicht dazu gekommen, anfangs vielleicht aus Zurückhaltung, dann wahrscheinlich aus Faszination. Außerdem waren alle Schilderungen und Eindrücke mehr oder weniger selbsterklärend und ließen kaum Unklarheiten zurück. Aber nach und nach fallen uns doch noch ein paar Dinge ein und so löchern wir unsere Führer mit unseren Fragen. Die Facenderos bleiben normalerweise ein Jahr auf dem Hof; während dem Aufenthalt hat keiner Kontakt zu Familie oder Freunden. Es gibt weder Handys noch Internet auf dem Gut. Nach einem Jahr wird der weitere Weg besprochen. Meist steht zuerst ein bis zu zweimonatiger „Urlaub“ an, der entweder bei Verwandten oder Freunden, oder aber auch zum Beispiel auf Pfarrhöfen, die von der Facenda vermittelt werden stattfindet. Danach kann man selbst entscheiden wie man weiterleben möchte, und in wieweit man sich im Stande fühlt wieder auf eigenen Beinen zu stehen.
Eigentlich kann man die Funktionsweise der Einrichtung in dem Sinne nicht beschreiben, man muss es wohl selbst mal gesehen und erlebt haben. „ Wer hier landet, der ist einfach gaaanz unten, der hat so gut wie nichts mehr zu verlieren. Hier fangen alle bei Null an. Es ist einfach die Liebe die man einander entgegenbringt, die das alles so besonders macht. Früher dachte ich immer Liebe hat nur was mit Frauen und Mädchen zu tun, und bin rot geworden und hab blöd gekichert. Aber dass es auch Liebe sein kann, wenn man einem Bruder, und sei es nur bei einer Kleinigkeit, hilft, und sieht wie er sich freut und das tut einem einfach gut, dann ist das auch Liebe, und ich glaube das zu kapieren ist schon mal echt genial! Fragt mich nicht wie das hier funktioniert, lauter Knastis und Junkies und solche Leute alle auf nem Haufen, ich weiß es einfach nicht, aber die Hauptsache ist doch, dass es funktioniert.“, erklärt Tim lächelnd. Dieser Satz fasst unserer Meinung nach am Besten zusammen, was wir heute alles gesehen, erlebt und gelernt haben. Als wir ausgetrunken und uns verabschiedet haben, gehen wir noch zu einem kleinen See hinunter, um uns auszutauschen und den Vormittag nach zu besprechen, aber letztendlich reden wir nicht viel. Die Stille ist aber nicht unangenehm; wir hängen einfach unseren Gedanken nach und sind im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos.